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So wie du mich kennstOverlay E-Book Reader

So wie du mich kennst

Roman | Anika Landsteiner

E-Book (EPUB)
2021 S. Fischer Verlag Gmbh
Auflage: 1. Auflage
352 Seiten
ISBN: 978-3-10-491374-2

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Kurztext / Annotation
»Was weiß ich wirklich über die, die ich am meisten liebe?« Karlas Leben ist stehengeblieben. Sie trägt eine Urne nach Hause, darin die Asche ihrer Schwester Marie. Und plötzlich ist nichts mehr so, wie es einmal war. Marie war Karlas Seelenverwandte, ihr Kompass in diesem Chaos, das sich Leben nennt. Und während sich dieses Chaos um sie herum einfach weiterdreht, reist Karla nach New York, um dort die Wohnung ihrer Schwester aufzulösen. Als sie Fotos findet, die so verstörend wie alltäglich sind, fragt sie sich, wie gut sie Marie wirklich kannte. Die Schwester, die so ganz anders lebte als sie. Die erfolgreich und selbstbewusst war. Was Karla auf den Bildern sieht, verändert ihren Blick auf Marie, ihren Blick auf sich selbst und auf das ganze Leben vor ihr. Anika Landsteiner erzählt eindringlich, bewegend und aufrüttelnd von Frauen wie uns. Von Menschen wie dir und mir. »So wie du mich kennst« ist ein Buch, das im Kopf bleibt.

Anika Landsteiner, Jahrgang 1987, arbeitet als Autorin und Journalistin. Ihr Fokus liegt dabei auf gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, Tabuthemen, Feminismus und Popkultur. Im Podcast »Hello, lovers!« spricht sie mit der Paartherapeutin Dr. Sharon Brehm darüber, wie gleichberechtigte Liebe funktionieren kann. In ihrem letzten Roman »So wie du mich kennst« ging es um Trauerbewältigung und häusliche Gewalt, in diesem Roman widmet sie sich dem Thema der weiblichen Selbstbestimmung. Die Spiegel-Bestseller-Autorin lebt in München. Mehr über die Autorin finden Sie hier:www.anikalandsteiner.deInstagram: @anikalandsteiner

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Karla

Scheiß schöne Aussicht.

Ich lehnte mich gegen die Beifahrertür und kniff die Augen zusammen. Mein Wagen war stehen geblieben, direkt an der Schönen Aussicht, so wurde das hier genannt. Erst war mein Leben stehen geblieben und nun auch der Polo, hier oben auf dem Hügel.

Die Gegend kannte ich wie meine Westentasche. Rechts von der schmalen Straße der kleine Parkplatz, zum Stehenbleiben und Fotografieren, direkt dahinter fielen weiche Sommerfelder sanft ab, auf denen Apfelbäume standen. Links von der Straße erstreckte sich ein kleines Waldstück. Vor mir öffnete sich ein Tal, darin eingebettet ein in die Länge gezogener Ort, den man über einige Serpentinen erreichte. Ich wusste genau, wann man in welchen Gang schalten musste, um die Kurven so gleichmäßig wie möglich zu fahren.

Das Dorf setzte sich zusammen aus einer kleinen Neubausiedlung, einem Dorfkern mit ein paar restaurierten Fachwerkhäusern und einer frisch asphaltierten Hauptstraße. Es gab einen Bäcker - »beim Bäck« -, wo die angebrannten Backwaren zum selben Preis verkauft wurden wie die intakten, und Frau Riedel, die in siebter Generation den Laden führte, dazu starken schwarzen Filterkaffee ausschenkte, es gab eine Gaststätte - »Zum Hirschen« - mit drei Fremdenzimmern, es gab einen Spielplatz, einen Kindergarten, eine freiwillige Feuerwehr und einen Fußballverein, der entweder in die Kreisliga aufstieg oder in die Kreisklasse abstieg. Der kleine Kiosk, an dem ich mir zu Schulzeiten immer Fruchtgummischnüre gekauft hatte, war seit einigen Jahren geschlossen. In der Dorfmitte stand ein Nussbaum mit ausladender Krone und einer Holzbank darunter, auf der immer jemand saß. Beschäftigt mit dem vorbeiziehenden Leben. Nur eines der Häuser verfiel schon über die Jahre hinweg, und da sahen alle dran vorbei, was leicht war, weil es zur Hälfte hinter Bäumen verborgen stand. Vielleicht war das Dorf tatsächlich so außerordentlich hübsch hergerichtet, wie es letztes Jahr in der Rede des Bürgermeisters geheißen hatte, als es zum schönsten Dorf im ganzen Landkreis gewählt worden war. Die nächstgrößere Stadt hieß Seekirch, mit zwanzigtausend Einwohnern, wo ich zur Schule gegangen war und seit kurzem wohnte. Die große weite Welt lag weit weg von hier. Dort, wo vor Jahren meine Schwester ihren Platz gefunden hatte.

Ein warmer Wind strich über meine nackten Arme. Obwohl ich mein ganzes Leben genau hier auf dem Land verbracht hatte, fühlte sich alles um mich herum fremd an. Ich war nur kurz weg gewesen, zurück kam ich jedoch mit einer Urne. Alles, was ich kannte, hatte auch meine Schwester gekannt, und die Umrisse meines Lebens hatte ich immer aus einer gewissen Gewohnheit heraus betrachtet. Nichts war je neu gewesen, da hatte auch die frisch asphaltierte Straße nichts dran geändert. Doch jetzt war plötzlich alles anders.

Mein Auto sprang nicht mehr an. Mein Handy-Akku war leer. So sollte nun meine Heimreise enden, nachdem ich vor elf Stunden in New York ins Flugzeug gestiegen war. Mir blieb nichts anderes übrig, als die letzten Kilometer zu laufen. Ich presste einen Daumen in die flache, schmale Holzmaserung der Urne und fuhr daran entlang. Ein paar Nadelbäume neigten sich im Wind. Alles in Schräglage, und auch mir wurde schlecht. An einem ganz bestimmten Punkt wusste man immer, dass man sich übergeben würde. Galle drang durch meine Speiseröhre nach oben, und dann erbrach ich eine milchige Flüssigkeit. Meine Augen füllten sich mit Tränen, als ich die kleinen Speichelflecken auf der Urne sah. Ich wischte die Oberfläche sauber, dann schloss ich die Augen. Alles dahinter war gleißend hell. Vogelgezwitscher. Ein Traktor in der Ferne. Das Rascheln von Blättern. Auf Anhöhen wie dieser stand die Zeit still. Ich presste meine zuckenden Lider zusammen, und die unerträgliche Helligkeit zerfloss zu Beige. Die Farbe meines neuen Lebens. Die Farbe der Sonntagshose mei