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Die Macht der MehrsprachigkeitOverlay E-Book Reader

Die Macht der Mehrsprachigkeit

Über Herkunft und Vielfalt | Olga Grjasnowa

E-Book (EPUB)
2021 Duden
Auflage: 1. Auflage
128 Seiten
ISBN: 978-3-411-91341-1

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Kurztext / Annotation
Mehrsprachigkeit ist, wie die Schriftstellerin Olga Grjasnowa zeigt, ein Phänomen mit erstaunlich vielen Facetten. Oft gilt sie nur als Kennzeichen guter oder gar elitärer Bildung, dabei ist sie für immer mehr Menschen und Familien hierzulande eine Selbstverständlichkeit. In jedem Fall handelt es sich um eine Fähigkeit, die etwas über die individuellen Biografien wie auch über die sich wandelnde Gesellschaft insgesamt erzählt. Wie ist es, zwischen zwei oder sogar drei Sprachen hin und her wechseln zu können? Warum wird Französisch als Zweitsprache mehr geachtet als Türkisch? Sollte Mehrsprachigkeit nicht generell viel mehr Wertschätzung erfahren und gezielt gefördert werden? Und sorgen die immer leistungsstärkeren Übersetzungsapps und Englisch als die neue Lingua franca womöglich dafür, dass wir uns jeweils mit nur noch einer Sprache begnügen? Grjasnowas faszinierender Text ist Ausdruck ihrer Überzeugung, dass Sprache und Identität eng zusammenhängen - und dass jede Sprache einen ganz eigenen Zugang zur Welt eröffnet.

Olga Grjasnowa, geboren 1984 in Baku, Aserbaidschan, hat bislang vier Romane veröffentlicht. Für ihr viel beachtetes Debüt 'Der Russe ist einer, der Birken liebt' (2012) wurde sie mit dem Klaus-Michael Kühne-Preis und dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihr der Roman 'Der verlorene Sohn' (2020). Olga Grjasnowa ist Mitglied des Goethe-Instituts. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Sprachenwechsel und Migration haben in meiner Familie in jeder Generation stattgefunden, wenn auch die Migration nicht immer freiwillig war. Meine Großmutter mütterlicherseits floh vor der Schoah, fast ihre gesamte Familie wurde von den Deutschen ermordet, und schon die Generationen vor ihr waren vor antisemitischen Pogromen im Ansiedlungsrayon des Russischen Kaiserreiches geflohen. Die Muttersprache meiner Großmutter war Jiddisch, sie sprach zudem Russisch, und nach ihrer Flucht von Weißrussland nach Aserbaidschan lernte sie Azeri, wenn auch nicht sehr gut. Die Herkunft der Familie meines Vaters wurde verschleiert, irgendwo aus der Wolga-Ebene kamen sie nach Baku - wie so viele andere in der Zeit des Erdölbooms.

Meine Mutter und mein Vater wurden in eine mehrsprachige Gesellschaft hineingeboren, sprachen jedoch überwiegend Russisch und nur bescheiden Aserbaidschanisch. Auch die Partner ihrer Geschwister, meine angeheirateten Onkel und Tanten, stammten alle aus bilingualen Familien und waren mit Russisch, Aserbaidschanisch, Persisch oder Polnisch aufgewachsen. Dieser Umstand galt in Baku als völlig normal und wurde nicht verhandelt. Baku war zu der Zeit eine multikulturelle Stadt: Auf den Straßen hörte man Russisch, Aserbaidschanisch, Georgisch, Armenisch, Persisch, Griechisch und viele andere Sprachen.

Die Muttersprache meiner Mutter war Russisch und nicht mehr Jiddisch. Als meine Mutter vor einigen Jahren die Serie Shtisel, die größtenteils auf Jiddisch gedreht worden ist, anschaute, war sie dennoch begeistert - nicht so sehr von der Serie selbst, sondern von dem »warmen Gefühl«, dass mehr und mehr jiddische Ausdrücke in ihr Bewusstsein zurückkehrten. Ausdrücke, die sie während ihrer Kindheit täglich gehört hatte und an die sie sich schon lange nicht mehr aktiv erinnerte.

Machtverhältnisse und Nationalismus spiegeln sich stets in der Sprache wider. Genauso wie die jeweils herrschenden Diskurse und Ideologien. Man kann sich noch heute selbst in den entlegensten Dörfern im Kaukasus oder in Zentralasien auf Russisch verständigen, allerdings ist dies dem Umstand geschuldet, dass Russisch nicht nur eine wunderschöne, sondern auch eine imperiale Sprache ist. Die Dominanz der russischen Sprache in Baku war insofern politisch gewollt. Daran liegt es auch, dass ich als Kind niemals richtig Aserbaidschanisch gelernt habe, obwohl ich mir durchaus Mühe gab. Wir sprachen die Sprache des Imperiums, und das war damals genug.

Aserbaidschanisch umgab mich jeden Tag, in den Wohnungen der Nachbarschaft oder unserer Freund*innen1, auf der Straße und in der Schule. Dort besuchte ich eine russischsprachige Klasse. Aserbaidschanisch wurde zwar von der ersten Klasse an unterrichtet, allerdings nicht sonderlich gut. Neben russischsprachigen Klassen wie meiner gab es auch andere, in denen nur auf Aserbaidschanisch unterrichtet wurde - in der Regel waren das zwei getrennte Welten. Die Klassen, die auf Russisch unterrichtet wurden, waren privilegiert. Die Kinder, die sie besuchten, stammten aus sozial etwas gehobeneren Schichten und hatten Eltern mit deutlich höheren Bildungsabschlüssen.

Russisch war in der gesamten Sowjetunion die dominante Bildungs- und Kommunikationssprache. Viele aserbaidschanischsprachige Familien fingen im Laufe der Zeit an, ebenfalls untereinander Russisch zu sprechen. Obwohl die Sowjetunion eine klassenlose Gesellschaft sein sollte, zeigte der Abstand, den nicht-russischsprachige Muttersprachler*innen zu der eigenen Herkunftssprache und Kultur gewonnen hatten, auch die eigene soziale Klasse an - je mehr und akzentfreier man also Russisch sprach, desto eher gehörte man der »Intelligenzija« an. Russisch wurde mit Kultur gleichgesetzt. Alles Nationale war dagegen eher verpönt, zumindest alles, was nicht russisch war.

Selbst das aserbaidschanische Alphabet wurde zum Bauernopfer der Politik und gleich mehrmals geändert: Die seit